Kintsugi und die Schönheit im Makel
Geschirr ist fragil und Missgeschicke passieren schnell einmal. Wenn die Lieblingsschüssel versehentlich zu Bruch geht, müssen Sie sie aber nicht zwangsläufig entsorgen. Stattdessen können Sie die Bruchstücke wieder zusammenfügen. Mit der japanischen Reparaturtechnik Kintsugi machen Sie daraus etwas Besonderes.
Ästhetische Reparatur mit Geschichte
Kintsugi (金継ぎ), auf Deutsch etwa „Reparieren mit Gold“ („kin“ bedeutet gold und „tsu“ reparieren, erben, fortführen), ist eine traditionelle Technik aus Japan, bei der zerbrochene Keramik mit einem besonderen Lack, genannt Urushi, zusammengefügt wird und die Bruchstellen mit Gold hervorgehoben werden. Lackwaren gab es bereits in der Jomon-Zeit, die vor mehr als 7.000 Jahren begann und etwa 300 vor Christus endete. Die Reparatur mit Gold ist weitaus jünger: Das erste Kintsugi stammt aus dem 15. Jahrhundert. Eine gängige Theorie besagt, dass der Shogun Ashikaga Yoshimasa eine geliebte Teeschale zerbrach und zur Reparatur nach China schickte. Die Fixierung mittels Metallklammern gefielt dem Shogun allerdings nicht, weshalb er Kunsthandwerker damit beauftragte, eine ästhetische Reparaturmethode zu kreieren.
Der Lack wird aus dem Harz des Urushi-Baums gewonnen und in einem aufwendigen Verfahren in mehreren Schichten auf den zu lackierenden Gegenstand aufgetragen. Jede Schicht muss an einem warmen, staubfreien Ort mit hoher Luftfeuchtigkeit trocknen. Nach dem Schleifen des getrockneten Lacks folgt die nächste Schicht. Da jede Schicht mehrere Tage zum Trocknen benötigt, dauert es bis zur fertigen Lackware teils Monate. Nach dem Aushärten ist der Lack lebensmittelecht, beständig gegen Alkohol, Wasser, Lösungsmittel und Säuren sowie dauerelastisch. Darüber hinaus schützt er vor Schimmel.
Urushi beim Kintsugi
In Japan ist Kintsugi eine eigene Handwerkskunst, die zerbrochene Keramik mit echtem Lack, genannt Hon-Urushi, und Goldpuder veredelt. Die professionelle Kintsugi-Künstlerin Kyoko zeigt auf dem YouTube-Kanal Kintsugi Japan Live Streaming TV, wie sie verschiedene Gegenstände repariert. Wer sich einen Eindruck davon verschaffen möchte, kann sich beispielsweise folgendes Video ansehen, in dem sie an der Schale eines bekannten Restaurants aus Kyoto arbeitet:
Es ist aber durchaus möglich, zerbrochene Tassen und Teller selbst mit Hon-Urushi zu reparieren. Hierfür gibt es Kintsugi-Sets, die den Prozess für Selbermacher vereinfachen. Mittlerweile gibt es zudem synthetischen Lack, genannt Shin-Urushi, dessen Anwendung unkomplizierter und weniger zeitaufwendig ist. Allerdings ist Shin-Urushi im Gegensazu zu Hon-Urushi nicht lebensmittelecht, weshalb das reparierte Geschirr nur für Dekorationswecke einsetzbar ist.
Ästhetik und Wert
Beim Kintsugi geht es nicht darum, Unversehrtheit herzustellen, sondern den Makel zu betonen: Die Risse erzählen eine eigene Geschichte und verleihen den Objekten mehr Charakter. Der Gegenstand ist also aufgrund seiner Reparatur wertvoller als zuvor.
Kintsugi ist eng mit dem Konzept des Wabi Sabi (侘寂)verwoben. Dabei handelt es sich um eine Lebenseinstellung und Ästhetik, die auf Prinzipien des Zen-Buddhismus aufbaut. Es geht darum, das Unperfekte und Unvollkommene im Leben zu akzeptieren und sich der Vergänglichkeit bewusst zu werden. Wabi Sabi betont Widersprüche und Uneindeutigkeiten sowie Schlichtheit. Die Abnutzung älterer Dinge wird mit ihrer Geschichte und der Natur assoziiert.
Demzufolge findet sich auch die Schönheit von Objekten nicht in strukturierten, vollendeten Werken, sondern sie ist unscheinbar und unperfekt. Makellose Gegenstände sind weniger gehaltvoll, weil sie bereits alles preisgeben. Verschleiß, Abnutzungsspuren oder Risse hingegen machen ein Objekt einzigartig. Diese Spuren im Kintsugi hervorzuheben, ist auch eine Wertschätzung des Gegenstands und seiner Vergangenheit.
Kintsugi heute
Inzwischen hat sich die Kintsugi-Technik weit über die Werkstätten von japanischen Spezialisten oder die Reparatur von Keramik hinaus verbreitet. Selbst Risse an Geräten wie Smartphones lassen sich im Stil von Kintsugi aufwerten.
International hat Kintsugi ebenfalls an Bekanntheit gewonnen. Neben Kintsugi-Künstlern, deren Werke alle Aspekte der Technik so gut es geht widerspiegeln möchten, gibt es andere, die nur gewisse Elemente des Kintsugi nutzen. Im Designbereich geht es oft lediglich um den dekorativen Aspekt, nicht um die handwerkliche Kunstfertigkeit oder die philosophische Grundlage. Porzellanhersteller wie seletti zum Beispiel bringen Produktlinien heraus, bei denen sie unterschiedliche Porzellanstücke zusammengepuzzelt und die Linien vergoldet haben, sodass sie Kintsugi optisch ähneln.
Im Bereich der Nachhaltigkeit gilt Kintsugi als Upcycling-Methode: Anstatt zerbrochenes Geschirr zu entsorgen, lässt es sich mit der Kintsugi-Technik verschönern. Dabei geht es um die Wiederverwendung und der Aufwertung beschädigter Gegenstände mit Gold. Wie genau die Kintsugi-Technik umgesetzt wird, ist individuell.
Anklang finden auch die Werte des Kintsugi, die oft als Metapher für die Persönlichkeitsentwicklung gesehen werden: Die goldenen Linien repräsentieren negative Erfahrungen, schwierige Perioden und Traumata im Leben von Menschen.
Kintsugi – so funktioniert es
Um Gegenstände im Stil des Kintsugi zu reparieren, können Sie Sets sowohl mit echtem als auch synthetischem Urushi kaufen. Die Technik mit echtem Urushi ist allerdings zeitaufwendig und für den Einstieg schlecht geeignet. Zwar gestalten sich Reparaturen mit Shin-Urushi einfacher, aber das Ergebnis ist nicht lebensmittelecht. Wer das veredelte Geschirr weiterverwenden will, nutzt entweder echtes Urushi oder entfernt sich von der traditionellen Technik. Lebensmittelechte Reparatur im Kintsugi-Stil ist gar nicht so schwer.
Einfache Reparatur im Kintsugi-Stil
Um Teller, Tassen oder Schüsseln zu reparieren, benötigen Sie
- lebensmittelechten, hitze- und wasserbeständigen Klebstoff,
- Schlagmetallflocken oder Goldpuder,
- geeignetes Lösungsmittel zum Reinigen,
- ein Tuch sowie
- Schleifpapier oder einen rauen Schwamm.
Vor dem Zusammenfügen ist es ratsam, die Scherben zu reinigen und zu trocknen, damit die Bruchkanten sauber und staubfrei sind. Danach kann das eigentliche Reparieren beginnen.
Schritt 1: Scherben sortieren
Wer mehrere Scherben zu verkleben hat, sortiert sie am besten zuvor. Es empfiehlt sich, die Scherben kurz an die Bruchkanten zu halten, um zu schauen, ob sie an der richtigen Stelle sind. Dann ist es sinnvoll, sich eine Reihenfolge zum Verkleben zu überlegen und die Teile übersichtlich zu platzieren.
Schritt 2: Kleber auftragen
Dieser Schritt ist vom eingesetzten Klebstoff abhängig: Porzellan- und Keramikleber kommen zuerst auf die Bruchkante. Im Anschluss lassen sich Metallflocken gleichmäßig auf die Kantenlänge verteilen.
Bei lebensmittelechtem Epoxidkleber empfiehlt es sich, den Stoff mit dem Gold im Verhältnis 1:1 zu mischen und die Mixtur etwa 45 Minuten andicken lassen. Dann lässt er sich leicht auf die Bruchkanten streichen.
Schritt 3: Zusammenfügen
Fügen Sie die Teile nacheinander zusammen. Abhängig von Kleber ist es mitunter nötig, einige Minuten zu warten, bis er angetrocknet ist. Hier gilt es, die Herstelleranleitung zu beachten. Lassen Sie den Gegenstand gut trocknen, bis alles komplett ausgehärtet ist.
Schritt 4: Lücken füllen
Fehlt ein Bruchstück, lässt sich die Lücke mit der Epoxidfarbmischung und Weizenmehl füllen. Es muss in etwa die Konsistenz von Knete haben. Alternativ können Sie ein Zwei-Komponenten-Reparaturkit auf Epoxidharzbasis besorgen. Arbeiten Sie die Knete sorgfältig in die Unebenheiten ein. Es ist ratsam, bei der größten Stelle zu beginnen und sich bis zu den Rändern vorzuarbeiten.
Schritt 5: Überreste entfernen und säubern
Als nächstens folgt das Entfernen von Klebresten und überschüssigen Metallflockenresten. Hierfür eignen sich ein Tuch und Lösungsmittel wie hochprozentiger Alkohol oder auch Nagellackentferner.
Um die Klebestellen zu glätten, ist ein einfacher rauer Küchenschwamm nutzbar, feines Schleifpapier mit einer Mindestkörnung von 400 ist aber effektiver. Reiben Sie so lange über die betroffenen Stellen, bis sie glatt sind.
Schritt 6: Optionale Nachbesserung
Wer mit dem Resultat nicht vollständig zufrieden ist, nimmt sich einen feinen Pinsel, streicht mit dem Kleber über die Linien und verteilt das Schlagmetall oder Goldpuder darauf. Nach dem Austrocknen folgt wieder die Reinigung. Zum Schluss spülen Sie das fertige Stück mit warmem Wasser ab.
Kintsugi mit synthetischem Lack
Kintsugi mit einem Shin-Urushi-Set durchzuführen, ähnelt der einfachen Methode in einigen Punkten: Nach der Reinigung und Sortierung kleben Sie die Bruchstücke mit Keramik- oder Porzellankleber zusammen und füllen die Lücken mithilfe eines Reparaturkits. Dieses Mal tragen Sie vor dem Verkleben aber keine Metallflocken beziehungsweise Goldpuder auf die Bruchstelle oder mischen sie mit dem Klebstoff. Hier weicht der Prozess von der ersten Methode ab. Für die folgenden Schritte benötigen Sie
- Shin-Urushi,
- Shin-Urushi-Reinigungsmittel,
- Shin-Urushi-Verdünner,
- Farbpulver oder Pigmente,
- Nassschleifpapier in den Körnungen 400 und 1.500,
- eine Pipette und
- einen feinen Pinsel.
Schritt 1: Risse ausbessern
Nachdem die Klebeschicht getrocknet ist, lassen sich feine Risse mit Shin-Urushi ausbessern. Tragen Sie den Lack vorsichtig auf die Risse auf, bis er eingezogen ist. Nach einer Trocknungszeit von ungefähr 15 Minuten können Sie testen, ob das Objekt schon trocken ist. Wenn der Fingernagel auf den gekitteten Stellen keine Spuren hinterlässt und das Objekt beim Abklopfen an allen Stellen gleich klingt, ist der Gegenstand trocken. Überschüssiger Lack ist mit Shin-Urushi-Reinigungsmittel und Tuch einfach zu entfernen.
Schritt 2: Bruchstellen glätten
Der nächste Schritt umfasst das Schleifen der Bruchstellen. Feuchten Sie das Schleifpapier an und reiben Sie vorsichtig über die Stellen. Für den ersten Schliff eignet sich Schleifpapier mit einer Körnung von 400. Wer weiches Material verarbeitet, wählt mitunter eine höhere Körnung. Steingut und unglasiertes Porzellan ist zum Beispiel weicher als glasiertes Porzellan. Zum Polieren kommt feineres Schleifpapier mit einer Körnung von mindestens 1.000 zum Einsatz.
Schritt 3: Goldlack anmischen
Um den goldenen Lack herzustellen, werden Shin-Urushi, Farbpulver und Verdünner im Verhältnis 1:1:1 gemischt. Zuerst verrühren Sie das Shin-Urushi mit der Farbe, dann tropfen Sie den Verdünner nach und nach mit der Pipette auf die anderen Komponenten. Wenn ein kleiner Pinselstrich in der Mischung sofort verschwindet, ist das richtige Verhältnis erreicht.
Schritt 4: Lack auftragen
Mit einem feinen Pinsel ist es nun möglich, den Lack auf die Risse aufzutragen. Um Verdickungen zu erzeugen, können Sie den Pinsel länger an eine Stelle halten. Durch einen Auftrag in dicken Schichten ist die Textur variierbar. Versuchen Sie, möglichst ebenmäßige Linien zu zeichnen. Zurechtgeschnitzte Windkorken sind praktisch, um kleine Punkte auf das Objekt zu stempeln. Überschüssiger Lack ist mit einem Tuch und Reinigungsmittel entfernbar. Lassen Sie das fertige Stück etwa zwei Tage lang trocknen und säubern Sie es dann vorsichtig.
Teaserbild: © photoBeard / stock.adobe.com | Video: Kintsugi Japan Live Streaming TV / YouTube | Abb. 1: © Moychay / stock.adobe.com | Abb. 2: © photoBeard / stock.adobe.com | Abb. 3: © riyat / stock.adobe.com