Experteninterview - Alles, was man über Getreide wissen sollte

kathischerf Dr. Katharina Scherf, Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Deutschen Forschungsanstalt für Lebensmittelchemie, Leibniz Institut
 
GabyAndersen Dr. Gaby Andersen, Programmbereichsleiterin bei der Deutschen Forschungsanstalt für Lebensmittelchemie, Leibniz Institut

 

Macht Getreide wirklich dick?

Experteninterview mit Kathrina Scherf und Gaby Andersen

Kann man eine Getreideart als die gesündeste von allen bezeichnen?

Nein, so einfach lässt sich diese Frage nicht beantworten. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt als tägliche Orientierungswerte für Erwachsene, 200 bis 300 Gramm Brot oder 150 bis 250 Gramm Brot und 50 bis 60 Gramm Getreideflocken zu verzehren sowie 200 bis 250 Gramm Nudeln oder Kartoffeln oder 150 bis 180 Gramm Reis. Dabei sollten jeweils Produkte aus Vollkorn bevorzugt werden. Getreide und Getreideerzeugnisse bilden bereits seit Jahrtausenden die wichtigste Grundlage für die menschliche Ernährung. Besonders Vollkornprodukte sind eine wertvolle Quelle für Vitamine, Mineralstoffe, sekundäre Pflanzenstoffe, Eiweiß und Ballaststoffe. In der Prävention und Therapie ernährungsbedingter Krankheiten wird der Verzehr von Vollkornprodukten mit einer vorbeugenden Wirkung gegenüber Diabetes mellitus Typ 2, Hypercholesterolämie, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf- und Fettstoffwechselstörungen, Übergewicht und Magen-Darm-Erkrankungen assoziiert. Insbesondere Weizen-, Dinkel- und Roggenmehle sowie Haferprodukte werden vielfach als Vollkornprodukte angeboten und sollten die Grundlage einer ausgewogenen Ernährung bilden.

Gibt es eine Getreideart, die Konsumenten weniger zu sich nehmen sollten (z. B. weil sie dick macht)? Und welche setzt am wenigsten an?

Auch hier lässt sich diese Frage nicht pauschal beantworten. Eine Gewichtszunahme beruht letztendlich immer darauf, dass mehr Energie (Kalorien) aufgenommen wird, als der Körper im Laufe des Tages verbraucht, meist aufgrund von zu wenig Bewegung. Hierbei kommt es natürlich auf das gesamte Ernährungsverhalten an, und nicht nur auf den Verzehr von Getreideprodukten. Weiße Mehle und polierter Reis enthalten im Vergleich zu den jeweiligen Vollkornprodukten mehr Stärke und dafür weniger Ballaststoffe, Vitamine und Mineralstoffe, sodass die Energiezufuhr insgesamt höher ist. Dass eine Getreideart mehr oder weniger ansetzt, kann man so nicht sagen.

Welche Nährstoffe im Getreide sind am förderlichsten für die menschliche Gesundheit – Fette, ungesättigte Fette, Eiweiß, Ballaststoffe? Und in welchem Maße beziehungsweise in welchem Verhältnis zueinander sollten Verbraucher sie zu sich nehmen?

Von den genannten Inhaltsstoffen sind die Ballaststoffe sehr förderlich für die menschliche Gesundheit, weil sie die Funktion des Verdauungstrakts unterstützen. Da Weizen-, Roggen- und Gerstenmehle nur ca. 1 bis 1,5 Prozent Fett enthalten, sind diese im Vergleich zu anderen Lebensmitteln nicht als nennenswerte Quelle für Fette und ungesättigte Fette anzusehen. Maismehl enthält mit 2,8 Prozent etwas mehr Fett, und Hafermehl mit 7,2 Prozent den höchsten Fettanteil. Obwohl Eiweiß mit Gehalten von 6,4 Prozent (Roggenmehl Type 815) bis 13,2 Prozent (Hafer- und Dinkelmehl) im Vergleich zu den Kohlenhydraten (hauptsächlich Stärke) mit Gehalten von 64 bis 71,1 Prozent mengenmäßig nur eine geringere Rolle spielt, deckt das Eiweiß aus Getreide aufgrund der hohen Verzehrmengen trotzdem etwa 30 Prozent des Proteinbedarfs des Menschen. Außerdem liefern Getreideprodukte etwa 50 bis 60 Prozent des Bedarfs an B-Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen.

Was sollten Verbraucher über Gluten wissen?

Gluten, bei Weizen häufig auch als Klebereiweiß bezeichnet, ist eine kleberähnliche, proteinhaltige Masse, die nach dem Auswaschen von Weizenteig mit Wasser oder Salzlösungen zurückbleibt. Das Klebereiweiß verleiht dem Weizenmehl eine hohe Wasseraufnahmefähigkeit, dem Teig Elastizität und Gashaltevermögen, und dem Brot ein hohes Volumen und eine typische Krumenstruktur. Es ist somit für die einzigartige Backfähigkeit des Weizens verantwortlich. Im Bereich der Gluten-Intoleranzen ist Gluten laut internationaler Gesetzgebung (Codex Alimentarius) als Proteinfraktion aus Weizen, Roggen, Gerste, Hafer und deren Kreuzungen definiert, die einige Personen nicht vertragen und die in Wasser und 0,5 mol/L Natriumchloridlösung unlöslich ist.

Wie stark ist die Gluten-Intoleranz (Zöliakie) in Deutschland verbreitet?

Die Häufigkeit der Zöliakie beträgt in Deutschland circa ein Prozent der Bevölkerung.

Ist Gluten tatsächlich so schädlich für den Menschen, wie es von vielen angenommen wird?

Gluten ist nur in Ausnahmefällen für den Menschen gesundheitlich bedenklich und zwar nur für diejenigen, die an einer ärztlich diagnostizierten Lebensmittelallergie gegenüber Weizen, Zöliakie oder Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität (NCGS) leiden. Die Schätzungen zur Häufigkeit der noch weitgehend unerforschten NCGS liegen im Bereich von 0,6 bis 6 Prozent der Bevölkerung, und die Lebensmittelallergie gegenüber Weizen betrifft weniger als ein Prozent der Bevölkerung. Somit ist nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung tatsächlich von einer Gluten-Intoleranz betroffen. Für den Rest (circa 95 Prozent) der Bevölkerung gilt Gluten als vollkommen unbedenklich.
Ohne Rat von Diätassistent/innen und Ernährungsberater/innen ist auch eine glutenfreie Ernährung unter Umständen problematisch. Glutenfreie Produkte enthalten im Vergleich zu den glutenhaltigen konventionellen Produkten oft mehr Zucker, Fett und weitere Zusatzstoffe, aber weniger Ballaststoffe, Vitamine und Mineralstoffe. Daher kann eine glutenfreie Ernährung ohne klare medizinische Notwendigkeit sogar zu einer Gewichtszunahme oder Mangelerscheinungen führen. Zudem sind glutenfreie Produkte deutlich teurer und weisen oft Defizite in Aroma, Geschmack und Textur auf.
Die in den Büchern wie „Weizenwampe“ und „Dumm wie Brot“ dargestellten Thesen sind problematisch, weil sie Erkenntnisse, die auf soliden wissenschaftlichen Ergebnissen beruhen, mit theoretischen, kontrovers diskutierten und falschen Behauptungen, die jeglicher Grundlage entbehren, vermischen und einseitig darstellen.

Welches Pseudogetreide ist das gesündeste?

Auch diese Frage lässt sich nicht generell beantworten. So weisen beispielsweise getrocknete Chiasamen einen Ballaststoffgehalt etwa 36 Gramm pro 100 Gramm auf. Demgegenüber liegt der Ballaststoffgehalt von Quinoa „lediglich“ bei ca. 6,5 Gramm pro 100 g. Der Mineralstoffgehalt von Quinoa liegt mit 3,3 Gramm pro 100 Gramm wiederum deutlich über dem des Buchweizens (1,7 Gramm pro 100 Gramm). Es wird also immer davon abhängen, unter welchem Aspekt man die verschiedenen Pseudogetreidearten miteinander vergleicht.

Haben Pseudogetreidearten Nachteile gegenüber echten Getreidearten wie Weizen, Roggen und Dinkel – oder umgekehrt?

Der wesentliche Nachteil liegt in der schlechteren Backfähigkeit der Pseudogetreide, da diese natürlicherweise kein Gluten enthalten. Was für Personen mit den oben genannten Glutenunverträglichkeiten natürlich wiederum von Vorteil ist.

Chia- und Leinsamen sind regelrecht in Mode gekommen. Was sind die jeweiligen besonderen Eigenschaften dieser Samen? Ist einer der beiden Samen gesünder für den Menschen?

Charakteristische Nährstoffmerkmale von Chia- und Leinsamen sind der Reichtum an Ballastsoffen, Fett und ungesättigten Fettsäuren. Im Hinblick auf diese Eigenschaften sind die beiden Lebensmittel allerdings vergleichbar. Mit einem durchschnittlichen Fettgehalt von 30 Gramm pro 100 Gramm entspricht der Fettanteil in Chiasamen in etwa dem von Leinsaat (31 Gramm pro 100 Gramm). Herausragend ist in beiden Fällen der Gehalt an ungesättigten Fettsäuren, besonders der Gehalt an Linolensäure (18 Gramm pro 100 Gramm in Chiasamen und 17 Gramm pro 100 Gramm in Leinsamen). Der Ballaststoffgehalt ist ebenfalls in beiden Samen vergleichbar (Chiasamen: 36 Gramm pro 100 Gramm, Leinsamen: 38 Gramm pro 100 Gramm).

Welchen Getreide- und Pseudogetreide-Nährstofftabellen im Netz können Verbraucher wirklich vertrauen?

Hier wären die zwei großen nationalen Nährwerttabellen zu nennen. Zum einen ist dies der Souci-Fachmann-Kraut, der Referenzwerte zu den Inhaltsstoffen unverarbeiteter Lebensmittel liefert, zum anderen der Bundeslebensmittelschlüssel, der sich im Wesentlichen auf verarbeitete Lebensmittel bezieht.

Müssen Verbraucher, die sich selbst Brote mit Chia- oder Leinsamen backen möchten, irgendwelche Hinweise beim Verarbeiten dieser Samen beachten?

Im Jahr 2009 wurden Chiasamen durch die Kommission der Europäischen Gemeinschaften als neuartige Lebensmittelzutat zur Verwendung in Broterzeugnissen zugelassen. Allerdings mit einem Höchstgehalt von fünf Prozent. Davon ausgehend sollte, um eventuelle nachteilige Effekte zu vermeiden, auch das zu Hause gebackene Brot keinen höheren Anteil aufweisen.



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